Neue Freie Presse
10 février 1929
Klaus Mann
DER IDEENROMAN.
DIE FALSCHMÜNZER. Roman von André
Gide. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart und Berlin.
Die folgenden Ausführungen eines Wortführers der jungen Generation über André Gide, den grossen psychologischen Romancier, werden besonderem Interesse begegnen.
André Gide stellt
die Behauptung auf: „Von allen literarischen Gattungen bietet der
Roman die freieste, am wenigsten durch die Regeln eingeengte Form.“
Er hat seine These mit den "Falschmünzern" bewiesen. Der Handlungsroman
ist durch das Kino überflussig geworden. Ein sensationeller Kriminalfall
ist viel amüsanter auf der Leinwand als im Buche darzustellen. Die
Sendung des Romans ist nicht mehr, aufregende Geschichten zu erzählen,
oder solche, die lustig sind. Es gibt, scheint mir, für den Erzähler
von heute zwei Möglichkeiten: sachlichste soziale Reportage mit ethisch
erzieherischer Endabsicht, herkommend von Zola (Fall der Amerikaner
und modernen Russen) — oder, was André Gide den "Ideenroman"
nennt. Ich halte Gide
seit meiner ersten Begegnung mit seinem Werk für den reichsten und
faszinierendsten Geist der europäischen Literatur unseres Jahrhunderts.
Die beiden charakteristischesten Merkmale seiner Persönlichkeit sind:
die Unendlichkeit der Seele und die unerbittliche, bekenntnissüchtige
Ehrlichkeit gegen sich selbst. Gesinnungstarke
verachten solche, die sich nicht festgelegt haben. Aber der Unterschied
ist gross, zwischen einem lauen Unentschiedenbleiben gegenüber den
Problemen und der glühenden Unersättlichheit, mit der sich Gide den
Problemen nähert. „Von nichts lässt er sich fesseln, aber nichts ist
fesselnder als sein Ausweichen...“, das ist eine der Formeln, auf
die er sein Wesen zu bringen versucht. Oder, noch präziser und tiefer:
„Er nimmt die
Form dessen an, was er liebt. Und um ihn zu verstehen, muss man
ihn lieben.“ Hier sehe ich das Geheimnis seines Nichtalterns.
Dieser, den Jahren nach nicht mehr junge, bleibt innerlich elastisch,
wie kein Zwanzigjähriger. Leidenschaftlich reagiert sein Geist, er
verwandelt sich proteushaft. „Nichts kann von mir verschiedener sein,
als ich selbst...“ Die Überraschungen, die er uns bereitet, [mot
illisible] ihn, wie sie uns entzücken. Er ist der immer
Aufbruchbereite. „Welch schönes Wort: Abenteuer! Zukunft! Was auf
mich zukommt!“ Er ist leidenschaftlich in jeder neuen Verwandlung.
„Nie“, sagt er, „fühle ich mich intensiver leben, als wenn ich mir
selbst entschlüpfe, um irgend jemand zu werden.“ Geistige Unrast
kann zur Zersplitterung führen, das ist die Gefahr unserer Dogmenfeindschaft.
Unruhe verliert sich ins Grenzenlose, wenn sie sich nicht, auf jeder
Station wieder, „durch Liebe bindet“ (um eine Formel Stephan Georges
zu gebrauchen). Gides Sein ist von solch liebender Unrast;
schillernd, doch streng; schweifend, doch an ihre geheimen und
eigenen Gesetze gebunden. Den wir um seiner
Grenzenlosigkeit willen lieben, verehren wir um seiner unerbittlichen
Ehrlichkeit willen. Seine protestantisch harte Autobiographie "Si
le grain ne meurt" gab uns den erschütterndsten Beweis dieses
Bekenntnisdranges. Er verheimlicht uns auch in den "Falschmünzern"
nichts. Die Blicke, die er uns in seine Werkstatt tun lässt, sind
nicht von koketter und trickhafter Art, wie wir es etwa bei älteren
Erzählern finden. Hier wird mit offenen Karten gespielt. Wir erleben
die Sorgen mit, die sich der Autor um seine Figuren macht: Wie wird
sich dieser entwickeln, wie jener? Er teilt uns noch, was ihn am tiefsten
quält, mit: die Zweifel an der eigenen Leistung. „Ein guter Roman
schreibt sich viel naiver als auf solche Manier“, sagt sich Edouard,
André Gides Doppelgänger, über den Falschmünzerroman, den er plant,
und der wiederum ein Doppelgänger des wirklichen Falschmünzerromans
ist. Um Form und Wirkungsmöglichkeit seines Werkes sorgt Edouard sich
sehr (denn es ist ja neu, was er plant). Dieses Ineinanderverschachteln
der beiden Romane — dessen, der existiert, und dessen, der geschrieben
werden soll — ist also nicht romantische Spielerei, sondern Vorwand,
um die Bedenken und Erwägungen des Autors anzubringen — Vorwand also
zur Beichte. Nun erfahren wir, was Absicht und Ziel der neuen Kunstform
ist: „Was ich machen möchte, verstehen Sie, wäre so etwas wie die
Kunst der Fuge! Ich sehe nicht ein, warum, was in der Musik
möglich gewesen ist, in der Literatur nicht auch möglich sein sollte.“ Er beweist uns
, dass es möglich ist. Wir haben in den "Falschmünzern"
den fugenhaften Ideenroman — und wir merken, dass es die Kunstform
ist, auf die wir mit so grosser Ungeduld gewartet haben (ohne damit
der pädagogischen Wichtigkeit des sozial-ethischen Reportageromans
nahetreten zu wollen). Sich in das
komplizierte und anmutig strenge Gewebe dieser geistigen und menschlichen
Beziehungen und Verwicklungen zu vertiefen, bedeutet erregendste Unterhaltung.
Wie musikalisch alles ineinandergreift! Leidenschaften und Philosophien,
erotische Anziehungen, Feindschaften, vielfältige Schicksale fügen
sich sinnvoll zur Figur. In einer strenggeführten Diskussion lösen
die Meinungen und Weltanschauungen der einzelnen einander ab. Die
Tragödien ganzer Familien werden dargestellt (die Abenteuer der Söhne,
das Martyrium der Mütter) — und mit den Tragödien wieder anderer Familien
verquickt. Auf die es ankommt,
sind die jungen Menschen. Der Roman ist um zwei Knaben herum geschrieben:
Olivier und Bernard. Sie sind das Zentrum, um das herum die Kreise
all der anderen Schicksale sich bewegen. Olivier ist der Weichere,
um den sich zwei Männer — Edouard und Passavant — pädagogisch bemühen:
Bernard der Selbständigere, der aufbricht, um das Leben allein zu
erobern. Der Höhepunkt der Handlung ist ein doppelter: Wie Olivier
und Edouard nach langem schweren Umweg zueinander kommen und wie Bernard
mit dem Engel kämpft! Entscheidungstunde
im Leben der beiden: Olivier erfährt sie durch die Begegnung mit einem
anderen Menschen, Bernard durch die Begegnung mit sich selbst. Beide
befanden sich in höchster Gefahr. Olivier hatte sich an den trügerischscharmanten
Passavant verloren, Bernard wusste keinen Halt mehr, denn er hatte
sich zu frei gemacht. „Ich wollte ja“, versteht er nachter, „weder
gesetzlos bleiben noch mein Gesetz von irgendwelcher anderen Seite
empfangen.“ Da trifft ihn sein Engel. Er kämpft mit ihm, erst dieser
Kampf macht ihn reif. Inzwischen erkennt Olivier, der Hilfsbedürftige,
die Liebe Edouards. Hineinverwoben
ist das Schicksal ihrer Brüder und der Frauen, die diese Brüder lieben.
Und das der Väter und Schwestern dieser liebenden Frauen und das der
glänzenden Damen, mit denen die Brüder sie betrogen haben. Und dann
die Abenteuer der jüngerer Brüder und ihrer Freunde. Und die Tragödie
eines alten Mannes, der früher Edouards Lehrer war. Sein Pessimismus
klingt vielleicht am tiefsten im Stimmengewirr. Nichts kann rührender
sein als seine unerfüllbare Musikantensehnsucht
nach der "Auflösung des Akkords" (von der er weiss, dass
er sie doch im Tode erst erfahren darf). Dieser alte La Pérouse ist
es, der das unergründlich traurige Wort findet: „Nun ist es desto
grauenvoller, dass die Liebe nicht das Glück, sondern das Martyrium
des anderen im Gefolge haben soll. Gottes Liebe zu den Menschen ist
vermutlich von ähnlicher Art.“ Hineinverwoben
ist die schmerzensvolle Verlassenheit von Oliviers Mutter (die sich
die Söhne entgleiten fühlt und den Mann nicht mehr liebt). Das Schicksal
des kleinen Boris, des alten La Pérouse Enkelsohn, den sensationslüsterne
Knaben töten. Der verlogene und fromne Pastor Vedel, Vorstand des
Knabenpensionats, in dem Boris stirbt und Bernard Hilfslehrer war,
Vater des Mädchens, das Oliviers älterer Bruder verliess und das nachher
von Bernard, vor dessen Begegnung mit dem Engel, so leidenschaftlich
geliebt wird. („Heil dem Geist, der uns verbinden mag, denn wir leben
wahrhaft in Figuren!“ — sagt Rainer Maria Rilke.) Zu allem Überfluss
ist Edouard der Halbbruder von Oliviers Mutter. Hineinverwoben ist
eine tolle, kolportagehafte Verbrechergeschichte. Und die Ansichten
und vorläufig extremen Lebensauffassungen so vieler junger Leute.
Die "Anti-Sinniten" kommen zur Welt, eine Art dadaistischer
Anarchisten, die alles kurz und klein schlagen wollen und gegen die
"lyrische Inflation" wettern. Und die "Vaterländischen",
die von der guten, alten Zeit und den Werten einer feudalen Vergangenheit
schwärmen. Von dem fingierten Falschmünzerroman heisst es, er müsste
schliessen: "Könnte fortgesetzt werden." Der wirkliche schliesst:
„Neugierig bin ich auf die Bekanntschaft mit dem kleinen Caloub“ (das
ist Bernards jüngerer Bruder). Neue Weiten tuen sich auf, neue psychologische
Komplikationen können sich ergeben. Das Buch schlisst mit einem grenzenlos
neugierigen Blick ins Ungewisse. Hineinverwoben
sind Weisheit, Liebe und Erfahrung des Dichters, dessen Geist all
diese Schicksale ordnete. Nichts kann
geheimnisvoller sein, als seine Kenntnis der jungen Seele. Wir müssen
uns von einem über Fünfzigjährigen den Typ "junger Mann"
zeigen lassen, der wir selbst sind (oder sein möchten). Welche Beschämung
für uns, die wir uns so selbstgefällig "jüngste Generation"
nennen. Wer sich nicht in Olivier wiedererkennt, findet sich in Bernard
(oder in beiden auf einmal). Das sind wir — ich habe es schon
nach den "Caves du Vatican," gewusst auch dieser Lafcadio
ist unser Spiegelbild gewesen. Nur dass die Jünglinge Gides instinktiv
sicherer finden, wo wir oft noch tasten. Wir wissen, dass eine alte
Moral nicht mehr gilt, aber wir haben noch keine neue. Lafcadio,
Bernard, Olivier sind sich einer neuen Sittlichkeit bewusst,
die sie zwar manchmal, im herkömmlichen Sinn, verbrecherisch werden
lässt. Sie haben eine amoralische Vornehmheit, einen skrupellosen,
eleganten Anstand. (Das klingt nun so renaissancehaft; aber schliesslich
hat es ja was davon.) Dass sie ausserderm mit Engeln sprechen können, macht sie uns noch inniger verwandt.
(„Wer nicht an Engel glaubt, ist von einer hoffnungslosen Begrenztheit.“)
Und sie haben natürlich jene törichte Überschätzung des Intellekts
aufgegeben. („Alles, was nur der Intelligenz seine Entstehung verdankt,
ist umwahr“, fahen sie ein.) Dass sie trotzdem
Verantwortungsgefühl haben, lässt sie vollends unsere Brüder
sein. Ich glaube, diese Mischung aus Abenteuerlust und leidenschaftlichem
Pflichtbewußtsein war früher gar nicht so häusig. Die folgende
Generation zu kennen, nicht nur sie mit Ironie zu schildern
— ist eine Leistung, die ich sehr bewundere. Was es auszusprechen
gilt, ist, dass die Jugend jene erkennende Liebe erwidert, die Gide
ihr schenkt. Unsere jüngeren Brüder, unsere Söhne —wenn wir uns die
überhaupt vorstellen dürfen — werden sich noch in seinen Knabengestalten
wiedererkennen. Eine der schönsten
und kühnsten Stellen des Romans "Die Falschmünzer" lautet: „Sollte uns
ein aus Sympathie geborner Scharfsinn untersagt sein, mittels dessen
wir der Zeit vorauseilen könnten? Welche Probleme werden die kommende
Generation beunruhigen? Für diese Kommenden will ich schreiben.
Einer noch unbestimmten Neugier Nahrung liefern, einer Sehnsucht antworten,
die noch nicht eingeglierdert ist, so dass, wer heute noch ein Kind
ist, morgen erstaunt sein wird, mich auf seinem Wege zu finden.“
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