Die Weltbühne
10 janvier 1928
Béla Balazs
Die Zukunft gehört den Bastarden
Oder pathetischer:
"Die letzte Generation". So oder ähnlich hätte André Gide
seinen neuen Roman betitelt (Die Falschmünzer, übersetzt von
Ferdinand Hardekopf, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart), wenn er
selber sehen könnte, was er so gut zeigen kann. Aber der unvergleichlich
subtile Thermometer, der hier genaue Fieberkurven zeichnet, kann keine
Diagnose stellen. Auch der feinste Seismograph weiss selber nicht,
woher die Erdstösse kommen. Trotzdem und grade darum ist dieser Roman
ein Zeitdokument von ausserordentlicher Wichtigkeit. Denn lehrreicher
als alles, was der Autor sagt, sind die symptomatischen Stellen, an
denen er versagt. Die deutlichen Grenzen seiner Erkenntnis zeichnen
— im Ungeschriebenen gleichsam ausgespart — die genauen Konturen seines
eignen geistigen Profils mit unter die Gestalten seines Romans, der
die hoffnungslose Entwurzeltheit der bürgerlichen Gesellschaft darstellt.
Der Roman handelt
von der heutigen pariser Jugend um das Gymnasium herum. Von der geistigen
Katastrophe einer ganzen Generation. Verwirrung, Verlorenheit, Verzweiflung,
Verkommenheit auf der ganzen Linie. Kein Ausweg, der in eine Zukunft
führt. (Das sieht André Gide mit ehrlich-unerbittlichem, psychologisch-durchdringendem
Blick.) Es steht allen auf dem Gesicht geschrieben: es ist die letzte
Generation einer hoffnungslosen Klasse. (Das sieht André Gide nicht!)
Und es ist doch
Jugend, getrieben von brennender Vitalität, verblüffendem Talent und
verwegener Denkleidenschaft. Und weil die Frage wovon man leben soll,
in diesen wohlsituierten Bürgerkindern die tiefere Frage wofür man
leben soll, noch nicht verschüttet, diese Frage aber von nirgendher
eine Richtung bekommt, so entsteht in dem philosophischen Treibhaus
dieser Geisteskultur die gefährlich phosphoreszierende Stickluft eines
unanwendbaren und gegenstandslosen Denkens, das sich — wie der leere
Magen — selber verzehrt. Das sieht André
Gide wohl. Doch er mag es nicht wissen, dass die naturnotwendige Jugendfrage
nach einem überpersönlichen Sinn des Lebens nur mit einer überpersönlichen
Aufgabe beantwortet werden kann. Denn „Aufgabe“ heisst die konkrete
Gestalt eines abstrakten „Sinns“, seine Fleischwerdung ohne die kein
Sinn einen Sinn hat. Aber wo soll die Jugend in der bürgerlichen Gesellschaft
solche Aufgabe finden? Und es ist doch
Jugend, natürlicher Drang zum Hinüberwachsen zur Revolte Da aber dieser
Drang beengende Grenzen zu überschreiten, keine bestimmte Richtung
hat, so wird er immer nur von dem nächstliegenden Verbot ausgelost,
gleichsam provoziert. Diese jungen Rebellen überschreiten nur die
Grenzen, die ganz obnauf markiert sind, also Familie, Strafgesetzbuch
und Sittlichkeit. Sie wissen nicht, wo sie der Schuh eigentlich drückt,
wenn sie auf Abenteuer gehen. Und auch André Gide weiss nur von den
Hühneraugen zu berichten „Die Zukunft
gehört den Bastarden“ — sagt er. Aber, wenn er seinen jungen Helden
aus der engsten Strafzelle der bürgerlichen Gesellschaft, aus der
Familie, ausbrechen lässt, so führt er ihn zum Schluss — an Hand eines
Engels — noch zu dem unrechtmässigen Vater zurück (an der Hand eines
wirklichen Engels!) Denn was dann? Wegelose Freiheit ist Vogelfreiheit.
Und den Rückzug, gegen den sich seine Vernunft bereits sträubt, muss
der bürgerliche Dichter mit einer mystischen Erleuchtung begründen.
Aber was sollen die Unglücklichen tun, die jenseits ihrer bürgerlichen
Gesellschaft nur Diebstahl, Betrugerei und Mord als neue Lebensformen
finden?
Die gefährliche
Krise der geistigen Pubertät wurde wohl noch nie in so eingehenden
Analysen gezeigt. Die wertvollsten Kräfte des erwachenden Intellekts
pervertieren in Ermangelung wirklicher Aufgaben. Denn wie es der grimmige
alte Tolstoi schon den Musikern nachgesagt hat, wird objektlose geistige
Spannung auch bei diesen Gymnasiasten zu sinnlicher Erregung. Und
Ideen, die sich nicht dokumentieren können, führen philosophische
Spekulationen bis zum Bordell und mystische Ekstasen bis zur Onanie
und Homosexualität. Denn das Erlebnis
am eignen Leib ist die einzige lebendige Wirklichkeit, der diese bürgerliche
Jugend teilhaftig ist. (Als Robert Musil in seinem genialen Zögling
Törless Ähnliches beschrieb, war die Lösung dieser Probleme der
bürgerlichen Welt noch nicht so offenbar naheliegend.) Trostloser aber
als die so meisterhaft geschilderte Anarchie der bürgerlichen Jugend
ist die Hilflosigkeit des enorm begabten Dichters, wenn er zum Schluss
den rettenden Weg weisen will. Es ist unheimlich zu sehen, wie ein
Gehirn von der Bedeutung Gides im Moment, wo es an die Grenzen seiner
Klassenideologie kommt, einfach dumm wird. „Das Leben muss
ein Ziel haben.“ „Wo soll ich
es suchen?“ „In Dir selber.
Es ist die Verwirklichung Deines Wesens.“ „Wie werde ich
erkennen, was mein Wesen ist?“ „Das Leben wird
es Dir zeigen.“ Also: du kannst
nicht gehen, wenn du kein Ziel hast und du kannst kein Ziel finden,
wenn du nicht gehst. So wird hier die Dialektik zu einem Quatsch leerer
Phrasen, am Ende eines dicken Buches voll klügster, tiefster, kultiviertester
Gedankengänge. Der Autor ist an die Grenze seiner Klasse gekommen. Die gefährlich
unlösbaren Probleme der pariser Gymnasiasten gefährden zum Beispiel
die Kameraden der sozialistischen Jugendbewegung oder die kleinen
russischen Pioniere nicht. Denn sie haben andres zu tun. Denn sie
können ihre Lebensziele und Aufgaben wohl auch erst unterwegs finden.
Aber sie können darauf losgehen, denn sie haben eine sichere Richtung,
die überpersönlich aus dem historischen Gesetz des Klassenkampfes
erwächst.
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